Zu Bundesvolksentscheiden gehört auch eine Ländermehrheit

Uwe Leonardy

Über das verfassungspolitische Für und Wider einer solchen Forderung ist schon genug geschrieben und geredet worden, was hier dementsprechend nicht wiederholt zu werden braucht. Herzlich wenig ist aber bisher ihre verfassungsrechtliche Umsetzbarkeit im einzelnen diskutiert worden, und das mag daran liegen, dass der Teufel bekanntlich immer im Detail steckt und allem Fanatismus eigen ist, sich um Details so wenig wie möglich zu kümmern.

Das bedeutet in diesem Feld, dass jeder neue Abschnitt über direkte Volksgesetzgebung im Grundgesetz Bestimmungen darüber enthalten müsste, dass und wie die Stimmen der Länder in bundesweiten Volksentscheiden gesondert gezählt werden müssen. Art. 79 Abs. 3, der die sog. Ewigkeitsgarantie in Gestalt des änderungsfesten Minimums festlegt, macht nämlich Änderungen des Grundgesetzes, „durch welche …die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung … berührt werden, … unzulässig“. Bezogen auf das hier anstehende Problem heißt dies, dass verfassungsrechtliche Vorschriften über bundesweite Volksentscheide als Weg der Gesetzgebung neben einer Zählung der Bevölkerungsstimmen im gesamten Bundesgebiet gleichberechtigt auch eine Feststellung der Mehrheiten in den Ländern je einzeln enthalten müssten. Erst wenn eine Mehrheit der Bevölkerungsstimmen mit einer Mehrheit der addierten Länderstimmen übereinstimmen würde, wäre mithin danach ein Bundesvolksentscheid erfolgreich. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei, dass die Mehrheit der Länderstimmen nicht etwa durch eine schlichte Addition der in ihnen insgesamt abgegebenen Pro- oder Contra-Stimmen festgestellt werden kann; denn das würde auf eine bloße Wiederholung der bundesweiten Zählung der Bevölkerungsstimmen hinauslaufen und jeweils den einzelnen Ländern als solchen keine „Mitwirkung bei der Gesetzgebung“ verschaffen, wie es Art. 79 Abs. 3 GG nicht variierbar verlangt. Konkret heißt dies, dass die Länder, in denen Mehrheiten für oder gegen die Abstimmungsfrage erzielt worden sind, getrennt gezählt werden müssen und dass in ihnen die unterliegenden Stimmen mithin in der Gesamtheit des Länderlagers keine Bedeutung erlangen. Dabei kann man sich allenfalls noch darüber streiten, wie die einzelnen Länder innerhalb dieses Lagers gewichtet werden sollen, wie z.B. entweder nach ihrer Einwohnerzahl oder der Zahl ihrer Bundesratsstimmen. Nicht möglich wäre aber eine Vernachlässigung der bereits geschilderten Notwendigkeit, die Länderstimmen für sich und damit (jedenfalls bei Zustimmungsgesetzen) gleichberechtigt neben den Stimmen der Bundesbevölkerung insgesamt zu zählen. Ein Volksentscheid käme dementsprechend nur dann zustande, wenn die Mehrheiten positiv in diesen beiden Bereichen übereinstimmten (es sei denn, es würde sich um Einspruchsgesetze, also um solche handeln, die im normalen Gesetzgebungsverfahren einer Zustimmung des Bundesrats und damit der Länder nicht bedürfen.)

Wem das zu kompliziert ist oder wer das gar für undemokratisch hält, dem sei ein Blick in das Stammland der Volksgesetzgebung empfohlen: In der Schweiz bedürfen nach Art. 140 der Bundesverfassung bestimmte Vorlagen (insbesondere Verfassungsänderungen und Beitritte zu supranationalen Gemeinschaften) neben der Bevölkerungsmehrheit einer Mehrheit der Kantone, des sog. Ständemehrs. Dies ist nur erreicht, wenn die Mehrheit der Kantonalstimmen (einschließlich der zur Hälfte zählenden Halbkontalstimmen) sich für die Vorlage ausspricht. Es wird kaum jemand behaupten wollen, dass dies undemokratisch wäre; denn es stellt – ebenso wie Art. 79. Abs. 3 GG – nichts anderes als die Widerspiegelung der Tatsache dar, dass die Schweiz – ebenso wie Deutschland – außer einem demokratischen eben auch ein föderaler Staat ist.

Ob ähnliche Regelungen – etwa wie die oben skizzierten – allerdings auch in Deutschland durchsetzbar wären, darf bei dem Rigorismus der Befürworter von bundesweiten Volksentscheiden selbst angesichts der geschilderten Tatsache bezweifelt werden, dass eine andere Lösung wegen der nicht überwindbaren Schranken des Art. 79 Abs. 3 nicht zulässig und damit nicht machbar wäre. Die Verfechter solcher Volksentscheide wären also vor weiteren Wiederholungen ihrer Forderungen zunächst einmal den Beweis schuldig, dass sie sich für derartige Regelungen einsetzen und ihnen auch zum Erfolg verhelfen würden. Bis dahin müssten sie sich wohl nicht ganz ungefährlichen Populismus – und diesen nicht selten vermengt mit opportunistischen Zügen – vorhalten lassen.

Uwe Leonardy